Muss, wer im Gefängnis sitzt, zwangsläufig unfrei sein? Und ist, wer tun und lassen kann, was er will, zwangsläufig frei und zufrieden? Ein ehemaliger Sklave klärt auf.
Epiktet hatte ein spannendes Leben: Als Sklave geboren, kam er (so gegen 60 n. Chr.) nach Rom an den Hof Neros und wurde dort ein paar Jahre später zum kaiserlichen Berater. Wegen seines Einflusses von Domitian aus Rom verbannt, gründete er in Nikopolis schließlich seine eigene, "blühende" Philosophenschule und wurde lehrend - wenn alles so stimmt - 88 Jahre alt.
Epiktets Start ins Leben war also zunächst unfreier, als wir es uns überhaupt vorstellen können: Als Beigabe seiner Mutter, die als Sklavin nach Rom verkauft wurde, musste er unablässig tun, was andere wollten. Dennoch - oder vielleicht gerade deshalb - wurde er ein überaus einflussreicher Denker und zwar mit Ideen, die aus der Psychotherapie des 21. Jahrhunderts nicht mehr weg zu denken sind. Eine dieser Ideen lautete: innere Freiheit.
Epiktet wurde ein überaus einflussreicher Denker mit Ideen, die aus der Psychotherapie des 21. Jahrhunderts nicht weg zu denken sind.
Innere Freiheit ist nach Epiktets Denken für unsere Psyche überaus erstrebenswert. Warum? Weil wir uns damit in zweifacher Hinsicht unabhängig machen: Zum einen von all den Dingen, die außerhalb unserer Macht liegen: Wer nach dem strebt, was er nicht haben kann, so Epiktet, macht sich selbst zum Knecht. Zum anderen von einschränkenden Gefühlen, mit denen sich plagt, wer sich falsche Vorstellungen macht von Personen, Ereignissen oder Werten.
Wer nach Epiktet innerlich frei ist, hat gewissermaßen im eigenen Denken aufgeräumt, sich von falschen, irrationalen Überzeugungen oder Bewertungen losgemacht. Wer innerlich frei ist, fürchtet sich nur vor denjenigen Dingen, die auch tatsächlich eine Gefahr darstellen, und schränkt sich nur aufgrund solcher Glaubenssätze ein, die sie oder er selbst geprüft und für gut bzw. sinnvoll befunden hat. Kein grundloses Aufregen und kein Leiden, von dem auch äußere Freiheit (sich unbeschränkt bewegen und materielle Wünsche befriedigen zu können) nicht befreit.
Wer innerlich frei ist, stützt sein Leben wesentlich auf Glaubenssätze, die sie oder er selbst geprüft und für gut befunden hat.
Aber ist das wirklich so, wie Epiktet sich das vor rund 2000 Jahren dachte? Gibt es einen Zusammenhang zwischen innerer Freiheit, dem Prüfen des eigenen Denkens und psychischem Wohlbefinden? - Es gibt ihn und viel Forschung zum Thema. Selbstkonzeptklarheit (self-concept clarity) lautet der Schlüsselbegriff, unter welchem zahlreiche Untersuchungen nur einen Click weit weg sind, die belegen, was Epiktet damals bereits lehrte. Und damit einen bereits 2000 Jahre verfügbaren Ausweg anbot gegen andauernd belastende Gefühle.
Lust auf ein Gedanken-Experiment zum Thema?
Der griechischen Mythologie zufolge wusste Odysseus um die betörende Wirkung der Sirenen. Kraft ihres Gesanges zogen diese Meerjungfrauen Seefahrer an, töteten sie und plünderten ihre Schiffe. Odysseus wollte zwar diesem Schicksal entgehen, den wunderbaren Gesang der Sirenen aber dennoch hören. So ließ er auf Rat der Zauberin Kirke seinen Gefährten die Ohren mit geschmolzenem Wachs verschließen und sich selbst an den Schiffsmast binden. Auf diese Weise konnte er den Gesang der Sirenen zwar vernehmen, aber als er ihnen hingerissen folgen wollte, banden die Gefährten seine Seile - wie vorher ausgemacht - noch fester. Außer Hörweite gekommen, verlor der Zauber seine Wirkung, Odysseus und Crew überlebten. Frage: War Odysseus, während er an den Schiffsmast gebunden war, freier oder unfreier, als wäre er nicht angebunden gewesen?
Quellen:
Campbell, Jennifer (1990): Self-esteem and clarity of the self-concept. In:Journal of Personality and Social Psychology 1990, Vol. 59 (3), S. 538-549.
Campbell, Jennifer D./Trapnell, Paul D./Heine, Steven J./Katz, Ilana M./Lavallee, Loraine F./Lehman, Darrin R. (1996): Self-Concept Clarity: Measurement, Personality Correlates, and Cultural Boundaries. Journal of Personality and Social Psychology Vol. 70, No. 1, 141-156.
Epiktet: Wege zum glücklichen Handeln. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main1992
Guerrettaz, Jean (2015): The Antecedents of Self-Concept Clarity, and the Factors that Maintain It. In: Athens, Ohio: OhioLink Electroic Theses & Dissertations Center: https://etd.ohiolink.edu/!etd.send_file?accession=osu1433502308&disposition=inline.
Guerrettaz, Jean/Arkin, Robert M. (2016): Distinguishing the subjective and the objective aspects of self-concept clarity. In: Social and Personality Psychological Compass 10/4 (2016): 219-130.
Olligschläger, Uwe J. (2011): Die Gesundheit der Seele: Sokrates - Seneca - Epiktet. Antikes Denken, moderne kognitive Psychotherapie und die Biochemie unserer Gedanken. Lit Verlag.
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